Wenn Justitias Diener keine Augenbinde braucht – sehbehinderter Betreuungsrichter Dr. André Stahl zu Gast in Bonner Dr.-Hubert-Roos-Haus
„Justitia ist blind“, pflegt man zu sagen. Wenn Künstler die symbolische Verkörperung des unbestechlichen römischen Rechts abbilden, so tun sie das seit Jahrtausenden in der Regel mit einer Augenbinde. Das will uns sagen: Justitia, die Gerechtigkeit, urteilt ohne Ansehen der Person. Sie ist ausschließlich dem Recht selbst verpflichtet.
Was aber, wenn einer, der der Gerechtigkeit dient, keine Augenbinde braucht, weil er ohnehin so wenig sieht, dass er „ohne Ansehen der Person“ urteilt?
Dr. André Stahl, Betreuungsrichter im Sauerland, kann davon viel erzählen – und das tat er auch: Am Abend des 12. Juni waren er und seine Kollegin und Assistentin Frau Dörthe Heilmann zu Gast im Dr.-Hubert-Roos-Haus in Bonn.
Frau Birgit Fromme von der im Haus ansässigen Deutschen Katholischen Bücherei für barrierefreies Lesen (DKBBLesen) und Frau Eva Naggert vom Blindenschriftverlag „Pauline von Mallinckrodt“ hatten diesen Besuch organisiert und die Werbetrommel gerührt. Zusammen mit ihren Kolleginnen und Kollegen wurde aus einem einfachen Konferenzraum ein gemütlicher Ort für Literatur und Begegnung. Aus Bonn, Köln und der Umgebung kamen viele Menschen, die Dr. André Stahl und sein letztes Jahr in Schwarzschrift, Braille und als Hörbuch erschienenes Buch „Ohne Ansehen der Person“ teils bereits kannten oder kennenlernen wollten. Sie nutzten die Gelegenheit, ihm live Fragen zu stellen und bisweilen auch ihre eigenen Erfahrungen aus einem Alltag mit Sehbehinderung und Blindheit auszutauschen.
Ob Dr. Stahl wegen seiner Sehbehinderung denn schon als Richter abgelehnt worden sei, lautete eine Frage. „Ja, aber bisher nur einmal so drastisch“, erzählte der Betreuungsrichter. Eine Frau mit psychischer Erkrankung habe ihn aggressiv gefragt, warum ein Behinderter darüber entscheiden dürfe, ob sie zwangsweise Medikamente nehmen müsse – er wolle sie bestimmt behindert machen; diese Patientin aber, so Dr. Stahl, habe einfach bei jedem etwas gefunden (Ärzte nicht als solche anerkannt usw.), da habe sie halt die Behinderung als Argument aufgegriffen, weil es quasi bereitlag. Dennoch, so der Richter weiter: Diese Begebenheit habe ihn veranlasst, einmal mehr gründlich zu reflektieren, ob er vielleicht aufgrund seiner Sehbehinderung anders urteile, die Menschen anders einschätze als normal Sehende. Das sei jedoch nicht der Fall und nicht nur sehende Assistenz bewahre ihn davor. Schmunzelnd fährt Dr. Stahl fort: „Studien haben gezeigt, dass ganz andere Faktoren wichtiger sind. Man weiß beispielsweise, dass Richter besonders dann ein Verfahren schnell hinter sich bringen und nicht lange überlegen wollen, wenn sie schon länger nichts gegessen haben. Also muss man eher auf solche Dinge achten.“
Die zweieinhalb Stunden, die der 36-jährige Betreuungsrichter bei Bücherei und Verlag zu Gast war, vergingen dank der überaus lebendigen Erzählung sehr schnell – aber auch, weil zwischendurch aus seinem Buch „Ohne Ansehen der Person“ vorgelesen wurde. Einige Passagen trug Frau Dörthe Heilmann vor, die den Richter bei seinen Lesungen begleitete.
Einen Buchausschnitt über seinen Schulalltag las dann Frau Annette Pavkovic. Sie ist selbst von Geburt blind, leitet die Blindenschriftverlag und -druckerei „Pauline von Mallinckrodt“ gGmbH ehrenamtlich als Geschäftsführerin und ist im Hauptberuf Lehrerin am Sehbehinderten- und Blindenzentrum Südbayern nahe München. Die Frage, ob eine solche Förderschule oder doch eher die Inklusion am Heimatort der richtige Weg und der richtige Lernort sei, nahm somit einen gewissen Raum bei den Fragen und Antworten ein. Hier, wie auch in Dr. Stahls so anschaulich geschildertem Betreuungsrichter-Alltag zeigt sich: Einfache Antworten sind selten, es kommt sehr auf die konkrete Situation im Einzelfall an.
Das Buch „Ohne Ansehen der Person“ hat Dr. André Stahl seiner Familie gewidmet, aber auch allen, die sich schon einmal in ihrem Leben anhören mussten: Du kannst das nicht, du bist ja behindert! Dieses vorschnelle Urteil aus den Köpfen und Herzen zu bekommen, ist eine der wichtigsten Botschaften des Buches. Der Abend war Ermutigung und Bestätigung gerade für die vielen selbst sehbehinderten und blinden Gäste, ihren Weg zu machen. Gerade die absolut souverän vorgetragene Lesung in Braille zeigte allen, was für ein mächtiges Werkzeug die vom selbst erblindeten Louis Braille vor 200 Jahren entwickelte Schrift ist, um privat und beruflich voll am gesellschaftlichen Leben teilnehmen zu können.
Der Abend ging in einer herzlichen und von allen Beteiligten und Besuchern
ausgestrahlten Atmosphäre zu Ende. Wir freuen uns auf viele weitere solcher
Begegnungen im Dr. Hubert-Roos-Haus!
(Bericht von Dr. Aleksander Pavkovic, Vorsitzender DKBW)
Sie interessieren Sich für die Lesung? Anbei ein Link mit der Aufnahme der Lesung! Mit freundlicher Genehmigung von
Dr. Stahl und allen Beteiligten!